Die Irrfahrt von Henri Cabannes
I.
Die Flucht aus Frankreich über Spanien im Jahre 1943.
1. Die Vorbereitung auf die Abfahrt.
2. Durch die Pyrenäen.
3. Durch Spanien.
4. Die Abfahrt nach Marokko.
II. Freiwillinge Meldung zur Armée de l’Air.
5.
Casablanca und Algier.
6. Marrakech.
7. England.
I. Die Flucht aus
Frankreich über Spanien im Jahre 1943.
1. Die Vorbereitung auf die Abfahrt.
Im Oktober 1942 werde ich, nach einem zweimaligen Verzicht auf die
"École Polytechnique", in die "École normale supérieure"
aufgenommen. 1941, nach einem einjährigen Vorstudium am Pariser
Saint-Louis-Gymnasium, war ich nämlich ein erstes Mal zu der "École
Polytechnique" zugelassen worden. Am 13. Februar 1943 kündigt das
nationale Radio die Einrichtung der Arbeitsdienstplicht an. (le S.T.O.: le
Service du Travail Obligatoire ) Die 1920, 1921 und 1922 geborenen jungen
Männer werden nach Deutschland als Ablösungsmannschaft einberufen. Zur
gleichen Zeit wird die allgemeine Registrierung der jungen Männer zwischen
einundzwanzig und einunddreiBig Jahren unternommen. Am gleichen Abend kommt die
Antwort mit der nun üblichen Schnelle aus London: "Nein zur Registrierung!".
Die Flucht vor der Registrierung verbreitet sich mehr als erwartet. Der
Propagandafeldzug der Franzosen in London gegen den "S.T.O." ist in
jeder Hinsicht viel umfangreicher als die bisherigen Radiodurchsagen. "Wenn
du den Krieg verkürzen willst, dann arbeite nicht für Hitler!" Am ersten
August 1943 zählt die Liste der Widerspenstigen 85000 Namen. Da ich 1923
geboren bin, war ich nicht betroffen, aber dennoch entschloss ich, mein Studium
an der "École normale supérieure" zu unterbrechen und
möglicherweise England oder Nordafrika zu erreichen.
Im August 1943 hatte ich seit einem Monat die Abschlüsse in der allgemeinen
Physik, in der Differentialrechnung und in der höheren Analysis erworben und
fuhr deshalb nach Bernadets-Desbats, im Departement
"Hautes-Pyrénées", um dort bei Verwandten auf einem Bauernhof meinen
Dienst auf dem Land zu versehen. Ich staunte, als ich erfuhr, dass die drei
jungen Männer aus diesem Dorf, die für den S.T.O. einberufen worden waren,
tatsächlich nach Deutschland zogen, obwohl die spanische Grenze sich siebzig
Kilometer weiter befand. In Tarbes besuchte ich Herrn Denis Prunet, einen Freund
meiner Eltern. Als ich ihm meinen Wunsch, nach Nordafrika zu fahren, mitteilte,
schlug er mir vor, mich mit einer geheimen Organisation in Berührung zu bringen,
damit ich mich heimlich über die französich-spanische Grenze schleusen lassen
konnte: ich brauchte nur bei ihm in Tarbes zu wohnen, wo ich auf die Abreise
warten konnte. Ich fuhr nach Paris über Marseille zurück, um meine Grossmutter
väterlicherseits zu besuchen, welche meinen Plan scharf kritisierte, da er die
Verhaftung meines Vaters, der Physikprofessor an der Pariser Universität war,
zur Folge haben würde. Ich hielt mich auch einige Tage in "Les
Lecques" auf, im Departement "Var", wo meine Eltern eine Villa
besassen. Dieses Dorf befindet sich an der Küste zwischen Marseille und Toulon.
Ohne klare Absicht beobachtete ich die verschiedenen Anlagen am Strand und in
den Villen am Meeresufer, die eine eventuelle Landung stören sollten.
In Paris zurück erfuhr ich, dass Fontanet und Baylé, zwei Schüler der
"École Polytechnique" und Kameraden meines älteren Bruders, eine
Möglichkeit suchten, sich nach Spanien einschleusen zu lassen. Eine solche
Suche war selbstverständlich sehr schwierig , aber ich hatte das Glück,
Kontakte zu haben. Beim Abgange der "École Polytechnique" hatte sich
Fontanet sofort nach Lourdes begeben, um mit einer geheimen Organisation Kontakt
aufzunehmen, die ihm angegeben worden war, aber da diese "gebrannt" (aufgedeckt?)
worden war, funktionierte sie nicht mehr, und er kam nach Paris zurück, um sich
vorübergehend an das Konstruktionsbüro von Caudron-Renault anzuschliessen, das
für die Messerschmidtfabrik in Augsburg arbeitete. Die "École
Polytechnique" hatte dorthin für den S.T.O. einige Schüler angewiesen.
Dort traf er Baylé wieder, den Kameraden seines Jahrgangs. Einige Studenten der
wissenschaftlichen Branche arbeiteten auch für den S.T.O. in diesem
Konstruktionsbüro. Als Fontanet und Baylé von meinem älteren Bruder erfuhren,
dass ich Kontakte hatte und, da ich nicht allein gehen wollte, Fluchtgenossen
suchte, beschlossen wir, alle drei zusammen wegzugehen. An den letzten
Septembertagen ging ich mit meinem Vater Georges Bruhat besuchen, den Zweiten
Direktor der "École normale", um ihn über meine Abreise zu
informieren, damit die "École normale" mich nicht sucht. Es wurde
abgemacht, dass ich mich in Südfrankreich erholen würde, und Herr Bruhat
wünschte mir viel Glück. Ich habe ihn nie wieder gesehen, da er nach
Buchenwald deportiert wurde und in Sachsenhausen starb. Am vierten Oktober 1943
verschwanden also Fontanet und Baylé aus ihrem Konstruktionsbüro, und wir
fuhren alle drei zusammen vom Austerlitzbahnhof mit dem Nachtzug nach Toulouse
ab. Mitten in der Nacht sagte mir auf deutsch der deutsche Soldat, der in
Vierzon die Reisenden kontrollierte, dass ich aus dem Zug aussteigen musste,
weil mein Personalausweis nicht den richtigen Stempel hatte! Ich stieg also aus
und verbrachte den Rest der Nacht in einem leeren Wagen auf einem Abstellgleis.
Am nächsten Tag ging ich zur Kommandantur in Vierzon, wo der richtige Stempel
auf meinen Ausweis aufgedrückt wurde! Ich ging zum Bahnhof zurück, um auf den
nächsten Zug nach Toulouse zu warten, wo ich am fünften Oktober gegen zwanzig
Uhr ankam. Da die Suche nach einem Hotelzimmer sich als schwierig und gewagt
erwiesen hätte, ging ich zu den Eltern meines Kameraden Jean Combes in der
Taurstrasse 80. Ich hatte eine gewisse Anzahl von Adressen in Toulouse, Tarbes,
Madrid, Casablanca, Alger und Brazzaville auswendig gelernt, denn man durfte
kein schriftliches Dokument bei sich haben, das verfänglich werden konnte. Für
Jean Combes und seine Eltern kam ich wie gerufen, und sie nahmen mich für die
Nacht auf. Am folgenden Tag stieg ich wieder in den Zug nach Tarbes. Ich kam im
Laufe des Nachmittags an und ging zu Herrn Prunet. Es wurde abgemacht, dass er
mir eine Unterkunft für die Nacht und das Frühstück bieten würde, dass ich
aber den ganzen Tag draussen verbringen und auch ausserhalb seines Hauses essen
würde. Am vorigen Tag hatte er den Besuch von Fontanet und Baylé bekommen. Bis
zur Abreise nach Spanien waren sie unter ähnlichen Umständen bei einem mutigen
jungen Paar untergebracht, das mit einer Schwester von Baylé befreundet war. Am
nächsten Tag haben wir uns, Fontanet, Baylé und ich, wiedertreffen können und
da haben wir beschlossen, dass zwei von uns den Tag draussen verbringen würden,
während der dritte allein bleiben würde, und zwar jeden Tag. Es schien uns
unvorsichtig zu sein, dass drei zwanzigjährige Jungen mehrere Tage lang durch
die Strassen von Tarbes zusammen umherirren. Also schlenderten wir, jeder nach
dem anderen, alleine umher, und zwar nicht in, sondern ausserhalb der Stadtmitte.
Ein einziges Mal sind wir zusammen nach Lourdes gefahren. Die Veranstalter der
Organisation, die uns übermittelt haben, dass wir uns am Freitag, dem
fünfzehnten Oktober 1943, mit dem Proviant für ein paar Tage in einem Rucksack
als einziges Gepäck am Bahnhof befinden sollten, haben wir nie getroffen. Am
selben Tag schickte ich meinen Eltern, nach Paris also, meinen Koffer mit meinen
nun überflüssig gewordenen Sachen.
2. Durch die Pyrenäen.
Zwei Menschen, wahrscheinlich Verantwortliche für die Organisation, kamen zur
festgesetzten Zeit am Bahnhof getrennt an und forderten die ausgemachte Summe:
3000 francs für jeden (damals verdiente ein Forscher, der seine ersten Schritte
beim CNRS - der französischen Zentrale für wissenschaftliche Forschung- tat,
2000 francs pro Monat). Der Zug, ein Personenzug nach Bagnères-de-Bigorre,
stand im Bahnhof. Es war ein Zug, in dem die Wagen dritter Klasse aus getrennten
Abteilen bestanden, jeweils mit einer Tür auf jeder Seite. Sie öffneten eine
der Türen und befahlen uns, Fontanet, Baylé und mir, in das Abteil, das sie
eben aufgemacht hatten, einzusteigen. Die Glühbirnen an der Decke waren
zerbrochen, und wir konnten auf den Sitzplätzen eine oder zwei weitere Personen
kaum unterscheiden. Beim Anhalten in Pouzac, dem letzten Halt vor
Bagnères-de-Bigorre öffnete einer der Mitreisenden die Tür auf der Seite des
Gleises und befahl uns, auszusteigen, was wir auch machten. Als der Zug
weiterfuhr, waren wir neun Kanditaten für die Flucht durch die Pyrenäen, mit
zwei (oder drei) Führern. In Bagnères-de-Bigorre fing die verbotene Zone an,
wo keiner sich ohne die Genehmigung der Deutschen befinden durfte. Wir machten
uns sofort durch Äcker und Wiesen auf den Weg. Wir gingen durch
Sainte-Marie-de-Campan und liefen die ganze Nacht bis zum Aspin-Pass. Unsere
Führer liessen uns dann in einem Wald und erklärten uns dabei, dass andere
Führer uns abholen würden, um die nächste Nacht weiterzulaufen... Wir
versuchten also zu schlafen, im Oktober,draussen, mit 1500 Metern Höhe.
Während dieser ersten Laufnacht und des "Ruhetages" im Wald in der
Nähe des Aspin-Passes haben wir mit unseren Fluchtgenossen Bekanntschaft
gemacht. Der jüngste war ein siebzehnjähriger Elsässer, der gezwungen worden
war, in die Wehrmacht einzutreten. Er hatte den Mut gehabt, zu desertieren und
versuchte, Marokko zu erreichen, um sich bei der französischen Armee freiwillig
zu melden. Einer anderer war ein Schüler der "École de Saint-Cyr";
er schweifte seit einer Woche in den Pyrenäen umher, denn er dachte, er könnte
alleine mit einer Landkarte und einem Kompass nach Spanien gelangen. Leute
hatten ihn gesehen und ihn zu unserer Gruppe geleitet. Sobald er erfuhr, dass
Fontanet, Baylé und ich die "École Polytechnique" oder die
"École normale" besuchten, war er beruhigt, aber er war schon sehr
erschöpft. Ausserdem war er sehr schwer ausgerüstet: Pelerine, Schuhe zum
Wechseln..., während wir alle drei, auf den Rat der Verantwortlichen für die
Organisation hin, nur einen kleinen Rucksack mit der Verpflegung für ein paar
Tage hatten. Ich habe nur eine undeutliche Erinnerung an die vier anderen
Fluchtgenossen behalten. Am Samstag, dem 16. Oktober, am Abend holten uns Neue
ab, die uns zu einer nur ein paar Laufstunden entfernten Scheune führten, wo
wir den Rest der Nacht,sowie den ganzen Sonntag, den 17. Oktober verbrachten,
und dies natürlich in aller Stille, und ohne auszugehen. Am Sonntagabend holten
uns wieder neue Führer ab. Die gefährlichste Stelle war in Vielle-Aure, einem
Dorf, die Überquerung einer Brücke, um an den anderen Abhang des Tals zu
gelangen. Deutsche Soldaten sassen um einen Tisch in einer Kneipe des Dorfes.
Wir gingen also jeder nach dem anderen über die Brücke, jedesmal auf ein
Zeichen von einem der Führer, der vielleicht ein Dorfbewohner war. Dann
erreichten wir einen Schieferbruch, wo wir uns bis fünf Uhr nachts "erholt"
haben. Neue Führer holten uns dann ab, und wir liefen, diesmal auf einem Pfad,
direkt am Berghang, auf der Ostseite des Tals, bis zu einem Gebiet über der
Heilanstalt von Rioumajou, wo der Schnee allmählich den ganzen Weg bedeckte. Es
war am Montag, dem 18. Oktober; Es war 11 Uhr, und unsere Führer zeigten uns
den Port du Plan-Pass (2457 Meter hoch). Dahinten befand sich Spanien. Sie
sagten uns, wir wären dort innerhalb einer halben Stunde und wünschten uns
eine gute "Reise" bis zu unserem Ziel. Wir fingen an, den Berg zu
besteigen, mit dem Schnee bis an die Waden zunächst, dann kniehoch. Um 14 Uhr
war der Pass immer noch in Sicht, kam aber immer langsamer heran. Um 15 Uhr
verliess ich erschöpft meinen Rucksack und seinem Proviant im Schnee. Fontanet
und Baylé, die widerstandsfähiger als ich waren, hoben die Verpflegung auf.
Sechs von uns liefen weiter, die drei anderen fassten aus lauter Erschöpfung
den Entschluss, ins Tal zurückzukehren. Um 16 Uhr kamen wir bei "Port du
Plan", an der Grenze an. Selbstverständlich konnten weder die Deutschen,
noch die Franzosen ihrer Hilfsdienste alle Pässe überwachen, insbesondere die
Pässe, die wie der "Port du Plan", den wir eben erreicht hatten, so
schwer zugänglich waren.
3. Durch Spanien.
Wir waren in Spanien! Wir zählten -aber das wussten wir noch nicht- zu den
23000 Franzosen, denen sie Flucht aus Frankreich über Spanien gelungen war. Die
Nacht brach herein, und wir stiegen ins Tal hinab, bis wir eine Scheune
fanden,wo wir uns für die Nacht niederliessen. Da unsere Kleider nach dem
langen Lauf im Schnee durchnässt waren, schliefen wir ganz nackt im Heu, und da
verbrachten wir unsere erste erholsame Nacht seit Tarbes. Am nächsten Tag,
Dienstag, dem 19. Oktober, stiegen wir das Cinqueta-Tal weiter hinab. Auf dem
Weg befand sich eine Brücke, die wir notwendigerweise überqueren mussten. Kurz
nach der Brücke, auf der anderen Talseite, warteten spanische Zivilposten auf
die jungen Franzosen, die damals mehrmals in der Woche und über die
verschiedenen, sehr hohen Pässe die Grenze überquerten. Wir blieben mit diesen
Zivilposten bis zum Ende ihres Dienstes, gegen 16 Uhr, und gingen mit ihnen bis
zum Dorf von "Plan" hinunter, wo sich ihre feste Wache befand. Bauern
aus dem Dorf empfingen uns mit Warmherzigkeit und gaben uns einige Nahrung wie
Brot und Wurst, denn wir hatten gar nichts mehr! Die Zivilposten sperrten uns
dann für die Nacht in ihrem sehr anspruchslosen Gebäude ein und sagten uns
dabei, dass sie uns in ein paar Tagen bis zur nächsten Stadt führen würden,
damit wir den Konsul treffen! Wir hatten nichts mehr, wir wussten nichts und
waren unfähig, wegzugehen. Wohin? Womit? Am Tag liessen sie uns frei, und die
Bauern gaben uns zu essen. Sie sahen auch sehr arm aus. Nach einigen Tagen-ich
kann mich nicht mehr an das genaue Datum erinnern- gingen wir mit den
Zivilposten, zunächst zu Fuß, los und dann fuhren wir mit dem Bus in die
nächste Stadt, um dort den Konsul zu treffen! Diese Stadt, die wir nicht
kannten, war Barbastro, 106 Kilometer weiter. Nach 12 Kilometern zu Fuß kamen
wir in Salinas de Sin an, wo wir auf den Bus warten mussten, der Bielsa mit
Barbastro verband. Unsere Aufseher verlangten Geld von uns, um den Bus zu
bezahlen. Wir sagten, dass wir keines hätten. Eigentlich wollten wir das
bisschen Geld, das uns übrigblieb, behalten. Sie erwiderten, dass wir unter
diesen Umständen also zu Fuß nach Barbastro gehen würden, was uns nicht
erschreckte, insofern wir zwischen Pouzac und Plan schon nächtelang gelaufen
waren. Wir gingen also wieder los, immer noch zu Fuß, bis zum nächsten Dorf,
wo wir mit unseren Zivilposten in den Autobus einstiegen, der gerade aus Bielsa
kam. In der Kleinstadt von Ainsa hielt der Bus ziemlich lange an, und unsere
Aufseher begleiteten uns in eine Kneipe, deren Wirt uns zu essen gab, ohne etwas
zu fordern, denn wir hatten ja schon so wenig. Es scheint, dass wir für diese
Spanier, die uns mehrere Tage lang ernährten, Helden waren. Vielleicht meinten
sie, dass wir auch das Ende von Franco beschleunigen würden, indem wir gegen
Deutschland kämpften, was sie sich vermutlich auch wünschten. Schliesslich
kamen wir in Barbastro gegen 20 Uhr an, und unsere Aufseher führten uns in ein
Gebäude, ein altes Kloster, das wir mit ihnen betraten. Als die Tür
geschlossen wurde, begriffen wir plötzlich, dass wir nicht beim Konsul waren,
sondern im Gefängnis! Unsere Naivität war grenzenlos gewesen, aber wir konnten
ohnehin nichts anderes tun.
Wir saßen im Gefängnis! Wir wurden registriert, wir wurden nach unserer
Idendität gefragt und aufgefordert, alles, was wir besaßen, zu überlassen:
das heißt bis auf ein bisschen französisches Geld nichts. Dieses Geld wurde
uns dennoch gegen einen Schein beschlagnahmt, der niemals zu etwas gedient
hat,was es auch sein mochte. Danach wurden wir in einen grossen Saal geführt,
in dem sich schon ungefähr 70 Franzosen befanden. Und wie lange schon? Unsere
Mitgefangenen drängten sich ein bisschen zusammen und machten vier Strohbetten
für uns sechs frei. Fontanet, Baylé und ich legten uns auf zwei der
Strohbetten hin und so schliefen wir während unseres ganzen Aufenhalts, der
einen Monat dauerte, im Gefängnis von Barbastro. Wir hatten nur die Kleider,
womit wir über die Grenze gegangen waren, und wir haben sie bis zum 26.
Dezember auf dem Weg zum Hafen von Malaga behalten, als das Rote Kreuz (aber
welches?) in Madrid uns neue Kleider gab. Unsere Mitgefangenen stellten uns
Fragen über Frankreich und den Krieg. Ihren Fragen nach haben wir gedacht, dass
sie seit wenigstens sechs Monaten da waren, was uns furchtbar entmutigte. Nach
einiger Zeit Unterhaltung, als sie unsere Niedergeschlagenheit sahen, fingen sie
zu lachen an, denn ein Aufenthalt in diesem Gefängnis dauerte zu dieser Zeit
ungefähr einen Monat. Jedesmal, wenn Neue eintrafen, wurde ihnen derselbe Witz
zugedacht. Am nächsten Tag gingen wir zum Gefängnisfriseur, der uns von Kopf
bis Fuss rasierte. Gegen 10 Uhr ging unser ganzer Saal für eine Stunde auf den
Hof hinunter: Dort trafen wir uns mit den Franzosen, die in einem anderen
großen Saal lebten. Unter ihnen erkannten Fontanet und Baylé einen ihrer
Kommilitonen aus der "École Polytechnique" wieder, und ich
meinerseits traf Jean Beydon, einen früheren Schulkameraden meines älteren
Bruders. Jean Beydon hatte sich im Saint-Louis-Gymnasium auf die Marineschule
vorbereitet.
Die Marineschule existierte nicht mehr, die Zulassungsprüfung fand aber immer
noch statt, und die Studenten besuchten die Vorlesungen der "École
Centrale de Paris". In diesem Gefängnis gab es auch viele spanische
Republikaner, die seit mehreren Jahren und für viele noch interniert waren, da
der General Franco bis zu seinem Tod im Jahre 1975 an der Macht geblieben ist.
Die spanischen Gefangenen gingen nicht zu gleicher Zeit wie die Franzosen aus,
Hof war sowieso nicht groß genug, als dass er alle Insassen enthalten könnte.
Jeden Sonntag wurde die Messe im Gefängnis gelesen: für die Spanier war sie
obligatorisch, für die Franzosen keine Pflicht, aber alle hörten sie, denn es
bot sich uns eine zusätzliche Gelegenheit, unseren großen Gemeinschaftsraum zu
verlassen. Regelmäßig kamen andere Franzosen in dem Gefängnis an, die eben
über die Grenze gekommen waren. Eines Tages sahen wir einen unserer drei
Genossen herankommen, die am 18. Oktober an den Abhängen von Port de Plan
kehrtgemacht hatten.
Er erklärte uns, dass er, mit einem der zwei anderen, bis zur Heilanstalt von
Rioumajou hinuntergelaufen war, während der dritte sich vor Erschöpfung in den
Schnee gelegt hatte und erfroren war. Es war derjenige, der bei der "École
de Saint-Cyr" zugelassen worden war. Diese Schule existierte auch nicht
mehr, die Zulassungsprüfung aber immer noch, wahrscheinlich im Hinblick auf die
Zukunft: Er war 21 Jahre alt! Er hiess Sapone. Der Gefängnisdirektor kam
regelmässig, um die Liste vorzulesen, von denjenigen, die Barbastro verliessen.
Einen Monat später standen wir, Fontanet, Baylé und ich auf der Liste der
Entlassenen. Wir waren so glücklich! Und so fuhren wir, paarweise mit den
Handschellen gefesselt, mit dem Zug nach Saragossa. In Saragossa gingen wir,
immer noch zu zweit aneinander gefesselt, durch die Strassen vom Bahnhof bis zum
Gefängnis. Es war ein sehr modernes Gefängnis, wo wir in verschiedenen Gruppen
von fünfzehn Leuten ungefähr, je in einem zehnquadratmetergrossen Zimmer,
eingesperrt wurden.In einer Ecke gab es einen Wasserhahn und ein Loch ,das als
Toilette diente! Nach einer oder zwei Stunden hat man uns Strohbetten gebracht,
aber wir konnten nicht alle gleichzeitig liegen! Diese Höllenqualen dauerten
drei Tage, bis wir wieder mit dem Zug weiterfuhren: Richtung Konzentrationslager
Miranda.
Nach dem Fegefeuer von Barbastro und der Hölle von Saragossa schien uns das
Lager von Miranda das Paradies zu sein. Das Lager war zur Zeit des Bürgerkriegs
und auf Hitlers klugen Rat von Franco gebaut worden. Es konnte mehrere Tausende
von Häftlingen zählen und hat sie auch tatsächlich enthalten. Es bestand aus
zahlreichen, in einer geraden Linie stehenden Holzbaracken. 120 bis 130 Leute
wurden in jeder Baracke untergebracht. Die brutale Wirklichkeit der
Konzentrationslager trat dennoch hervor, insbesondere bei der Verteilung des
Materials: abstossend schmutziges Kochgeschirr, Löffel, Strohbett und zerfetzte
Decke, die nach Ungeziefer roch. Jede Baracke war in der Mitte durch einen Flur
geteilt, auf dessen beiden Seiten, auf zwei Stockwerken, kleine Zimmer sich
nebeneinander befanden, deren Wohnraum durch alte Decken als Zwischenwände
umgrenzt war. Eine einzige Glühbirne schimmerte schwach in dem Flur. In jedem
"Zimmer" lebten mehrere Menschen. Ich lasse mich in einer dieser
Baracken nieder, während Fontanet und Baylé, die aus der "École
Polytechnique" kamen, ihren Wohnsitz im Offizierlager nahmen, wo ich sie
besuchte. Anlässlich eines dieser Besuche stellte ich fest, dass Jean Rousseau,
den ich aus dem Saint-Louis-Gymnasium kannte, und der eben zu der "École
Polytechnique" zugelassen worden war, auch im Offizierlager wohnte. Für
das Offizierlager war der Hauptmann Louis, der wahrscheinlich der dienstälteste
Offizier war, verantwortlich. Er war ein Gefangener wie wir alle und ich habe
ihm also erklärt, dass ich auch zu der "École Polytechnique"
zugelassen worden war, zweimal sogar, 1941 und 1942, dass ich aber darauf
verzichtet hatte, um in die "École normale" einzutreten, und deswegen
genauso viele Ansprüche hätte -wenn nicht mehr als Jean Rousseau-, im
Offizierlager zu wohnen. Der Hauptmann Louis, der in Barbastro und Saragossa mit
Fontanet, Baylé und mir war, hiess mich sofort, meine Sachen -das heisst fast
nichts- zu holen und zu kommen, was ich auch sofort tat. Das Leben in Miranda
war selbstverständlich hart, und die Hygienezustände erbärmlich. Miranda
liegt an der Ebro, 80 Kilometer südlich von Bilbao, auf einer Höhe von 460
Metern, und es war Dezember. Innerhalb des Lagers waren wir aber frei und wir
durften den ganzen Tag spazierengehen. Alle 14 Tage wurden Listen angeschlagen,
worauf mehrere Hunderte, Tausende vielleicht, von Namen standen. Es waren
diejenigen, die am nächsten Tag in die Freiheit aufbrechen würden. Am 24.
Dezember 1943 standen wir, Fontanet, Baylé und ich, auf der Liste der
Abreisenden des folgenden Tages. Am 25. Dezember gingen wir durch das Tor des
Konzentrationslagers von Miranda und wurden gleichzeitig zu freien Männern in
Spanien.
4. Die Abfahrt nach Marokko.
Als wir aus dem Lager von Miranda gingen, empfingen uns Vertreter von einem
Ausschuss, dem "Comité français de Libération nationale", der
seinen Sitz in Algier hatte. Wir gingen in ein Restaurant von Miranda, in dem
wir endlich ein richtiges Essen bekamen, und im Laufe des Abends fuhren wir mit
dem Zug nach Madrid, wo wir am 26. Dezember am Morgen ankamen. Man führte uns
zu einer Anstalt des Roten Kreuzes, wo wir die Kleider loswurden, die wir seit
unserer Abfahrt aus Paris am 4. Oktober anhatten, ohne uns je umziehen zu
können. Nachdem wir neue Kleider angezogen, uns rasiert und geduscht, schon
wieder gut gegessen hatten, gab man uns ein bisschen spanisches Geld, und dabei
wurden wir darum gebeten, am Abend für die Abfahrt nach Malaga zurückzukehren.
Ich ging zu Guy Lefort, einem Studenten der "École normale" aus dem
Jahrgang 1940, der am französchichen Gymnasium in Madrid unterrichtete. Herr
Carcopino, der Direktor der "École normale", und Herr Bruhat, sein
Gehilfe, hatten mehrere Schüler an dem französischen Gymnasium in Madrid
ernennen lassen, damit sie der Aufbringung für den S.T.O. entgehen konnten.
Natürlich waren diese Schüler mit dem Schlafwagen und einem Visum in Madrid
angekommen. Leforts Adresse war eine von jenen, die ich auswendig gelernt hatte.
Als er mich empfing, sagte mir Lefort, mit -so schien es mir- einem gewissen
Stolz, dass er, mit seinen Kollegen aus dem französischen Gymnasium, sich auch
an de Gaulle angeschlossen hatte. Da ich ihn fragte, worin dies bestand,
antwortete er mir, dass Pétain es von nun an nicht mehr war, der sie entlohnte,
sondern de Gaulle! Ich gratulierte ihm für diese wunderbare Heldentat und
sagte, dass ich meinerseits nach Marokko fuhr, um mich bei der Luftwaffe
freiwillig zu melden, nachdem ich über zwei Monate in den spanischen
Gefängnissen verbracht hatte. Wir verliessen Madrid mit Bussen und fuhren die
ganze Nacht. Die Busse schienen uns bequem zu sein, aber alles schien uns
ohnehin bequem. Bei der Morgendämmerung machten wir eine halbstündige Pause in
Granada und kamen am Vormittag in Malaga an: es war am Montag, dem 27. Dezember
1943. Die zahlreichen Franzosen, um die 1500, kamen vor allem aus dem Lager von
Miranda, aber auch aus einigen Gefängnissen und "balneiros". In
Malaga wurden wir vor der Abfahrt in den Arenen beherbergt, die Stroh als
Matratze bedeckte. Tagsüber waren wir frei und wir gaben in den Konditoreien
die paar in Madrid bekommenen Pesetas aus. Vom 21. Oktober bis zum 29. Dezember
verliessen ab Malaga sechs Konvois von zwei Schiffen Spanien, mit insgesamt
ungefähr 9000 Flüchtlingen aus Frankreich. Am 29. Dezember waren die zwei
Schiffe der fünf bisherigen Konvois, das Sidi Brahim und das Gouverneur Lépine
im Hafen von Malaga. Fontanet, Baylé und ich, sowie die 1500 Franzosen aus den
Arenen, gingen zum Hafen. Wir stiegen auf die Schiffe. Am Nachmittag sahen wir,
wie die spanischen Küsten sich entfernten: wir waren reisten nach Marokko ab!
Am Donnerstag, dem 31. Dezember 1943 betrat ich in Casablanca afrikanischen
Boden. Die Flucht aus Frankreich, von Paris nach Casablanca, war soeben zu Ende
gegangen: Sie hatte 88 Tage gedauert.
(I : Übersetzung von Florence Cabannes)
(II : Ubersetzt aus dem Französischen, Daniel und Lisl
Kastler,
II. Freiwillinge Meldung
zur Armée de l’Air.
5. Casablanca und Algier.
Am Freitag 31. Dezember 1943 wurden alle aus zwei von Malaga ankommenden
Schiffen gelandeten Franzosen in ein Übergangslager geführt um dort zahlreiche
Formalitäten zu erfüllen. Die erste davon war die Austellung einer nach
Erklärungen des Inhabers ausgestelle provisorische Identitätskarte. Danach
wurden wir ausführlich von Offizieren vernommen über unseren Lebenslauf;
unseren Studiengang, unsere Pyrenäenüberschreitung und unseren
Spanienaufenthalt. Ich erfuhr dabei, dass ich Leutnant ernannt wurde mit Wirkung
vom 18 Oktober, Datum meiner Überschreitung der spanischen Grenze. Alle aus
Frankreich Geflüchteten stammend aus den vier Militärschulen : École
Polytechnique, École de Saint-Cyr, École Navale, École de l’Air , oder der
folgenden Zivilschulen : École normale supérieure, École des Mines de Paris,
École des Ponts et Chaussées, École Centrale de Paris, École Coloniale,
wurden auf gleiche Art Leutnant ernannt. Andere Offiziere befragten uns über
Angelegenheiten von möglichem Interesse für die in Frankreich bevorstehenden
Kämpfe ; ich habe dann das Wenige mir Bekannte über die Vorrichtugen des
Strandes von Les Lecques und den Villen an der Meeresfront erwähnt. Danach habe
ich eine für Kriegslänge gültige freiwillige Meldung zur Armée de l’Air
unterzeichnet. Von diesem Punkt an haben sich die Wege Fontanet’s und Baylé’s
von meinen getrennt. Fontanet hatte sich zur Artillerie und Baylè zur
Panzerwaffe gemeldet. Die aus Frankreich Geflüchteten durften die Waffengattung
ihrer friewilligen Meldung wählen. Bei jeder Ankunft von Spanien fanden sich
falsche Elsässer, in der Tat von der Wehrmacht geschickte deutsche Spione ; sie
wurden erschossen. Am Montag den 4. Januar verliess ich das Übergangslager für
das Lager 209 in Casablanca. In diesem Lager bekamen wir eine sehr komplette
Militärausrüstung und ich habe dort gewartet, bis ich nach Algier geschickt
wurde zur Verifikation (im Journal Officiel) meines Eintrittes in die École
normale und meiner Ernennung in der Rangstufe eines Leutnants. Während dieses
Casablancaaufenthaltes besuchte ich André Moitessier, Vetter meiner Mutter ;
seine Adresse war unter den von mir auswendig gelernten Adressen. Er sagte mir,
dass mein Jahrgangskamerad Marcel Boiteux in der École normale schon vor
Monaten in Casablanca aus Gibraltar angekommen war. Boiteux und ich hatten
durchs ganze Schuljahr 1942-1943 ein Studierzimmer geteilt ohne dass einer
wusste, dass der andere seine Studien zu unterbrechen gedachte, um sich bei den
französischen Steitkräften in Nordafrika freiwillig zu melden. Dies zeugte von
der notwendigen Geheimhaltung solcher Projekte. Boiteux hatte Spanien binnen nur
zwei Wochen durchquert ohne von den Spaniern verhaftet zu werden. Er verdankte
dies seiner Pyrenäendurchquerung als Führer amerikanischer, über Frankreich
abgeschossener Kriegspiloten ; einmal angelangt in Spanien hatten diese Piloten
ihre Botschaft in Madrid kontaktiert. Franco schickte nicht die Amerikaner ins
Gefängnis, einMitglied der Botschaft hat die Piloten samt Boiteux geholt, um
sie nach Gibraltar zu führen. Im Lager 209 habe ich Langlois-Berthelot
kennengelernt, er war von Spanien im gleichen Geleitzug wie ich gekommen, er
hatte mit Erfolg in 1943 den Eintrittswettbewerb absolviert und wartete so wie
ich auf den Aufbruch nach Algier. Sein Spanienaufenthalt war in den «
Balnearios » verlaufen, er hatte sich als siebzehnjährig erklärt ; war besser
als ich über die Bedindungen der Spanierdurchquerung informiert worden.
Schliesslich fuhren wir Langlois-Berthelot und ich per Zug nach Algier, in
Viehwagons, jedoch komfortabel installiert. Eine immense Armee von
amerikanischen, englischen, und französischen Soldaten befand sich in
Nordafrika und Transportierung stellte natürlich zahlreiche Probleme. Nach
mehreren Tagen und Nächten, und zahlreichen Aufenthalten, unter anderem in Oran
das wir besichtigen konnten, kamen wir am 16. Januar nach Algier ; dort
erreichten wir die uns zugewiesene Basis 320, wo wir nach zahlreichen neuen
Formalitäten, die uns insbesondere mit einer definitiven Identitätskarte
bestatteten, auf unsere Ernennung als Leutnant warteten - letztere am 3. März
erfolgt ! Sofort nach Ankunft in Algier hatte ich die Büros von Radio-Algier
besucht um eine Botschaft senden zu lassen « Die Schnauze des Tapirs deutet zum
Himmel » - es war mit Eltern und Freunden vereinbart worden, dass dies meine
Ankunft in Algier melden würde. Die Botschaft entging meinen Eltern, wurde aber
von Freunden aufgefangen, die meine Eltern warnten. Während den sechs in Algier
verbrachten Wochen besuchte ich Georges Darmois, Professor an der Sorbonne, zu
dieser Zeit in Algier ansässig. Ich lernte von ihm dass Yves Rocard, auch
Professor der naturwissenschaftlichen Fakultät Paris, ebenfalls in Algier
weilte. Ich hatte die Vorlesung gehört, die Rocard für die École normale
Studenten des ersten Jahres las, und er hatte mich durchgenommen bei einer
mündlichen Prüfung des Physique générale Examens in Juli. Rocard hatte
Frankreich mit Flugzeug verlassen. Er war Spezialist der Radioscheinwerfer,
dieEngländer hatten ihn durch ein in der Nacht von 13. zum 14. September 1943
auf einer Wiese, in der Gegend von Poitiers gelandeten Lysanderflugzeug holen
lassen. Die Lysander waren kleine einmotorige Vierplatzflugzeuge : ein Pilot,
ein Maschinengewehrschütze und zwei Passagiere. Sie landeten bei vollen oder
halbvollen Mondscheinnächten auf von Widerständlern signalisirten Wiesen.
Ungefähr 640 Personen verliessen Frankreich auf diese Weise, eine Ziffer, die
zu vergleichen ist mit der Anzahl der 23000 Franzosen, welche die Pyrenäen
durchquerten (gegen 7000 Misserfolge). Zu diesen Ziffern kommen einige tausend
Ausländer dazu. Während den sechs in Algier verbrachten Wochen besuchte ich
fast täglich die Bibliothek der Universität von Algier. Ich wollte natürlich
nach dem Krieg zurück zur École normale um meinen Studiengang abzuschliessen
und wünschte daher die schon erworbenen mathematischen Kentnisse nicht zu
vergessen. In der Bibliothek habe ich den Beweis des Hadamardschen Satzes ûber
Verteilung der Primzahlen gelesen und aufgesetzt, und fing an, die tranzendenten
Zahlen zu studieren. Ich habe auch in Algier eines der seltenen Werke gekauft
die ich fand : die drei Bände der Mécanique céleste von Poincaré. In Algier
besuchte ich meinen Onkel Albert Fabry und meine Tante ; sie bewohnten, rue
Claude Bernard, eine Villa mit schöner Sicht auf die Stadt Algier : sie
empfingen mich sehr herzlich, ich habe mehrmals bei ihnen übernachtet. Anfang
Mârz bekamen wir, Langlois und ich, unsere Ernennungen als Leutnant mit
rûkwirkender Besoldung, und am 3. März fuhren wir zurück nach Casablanca, so
langwierig wie vorher aber diesmal in Reisewagons. Nach Ankunft in Casablanca
wurden wir dem Centre de préparation du Personnel navigant
(Flugpersonalausbildungszentrum) zugewiesen, zusammen mit etwa zwanzig jungen
französischen Offiziersanwärtern ; wir sollten der nächste Jahrgang werden,
der einen Ausbildungskurs für Flugpersonal der Armée de l’Air befolgen
sollte. Wir blieben in Casablanca bis zum 12. April.
6. Marrakech.
Am 13. April kamen alle Praktikanten, zwei Leutnants : Langlois und ich, plus
etwa zwanzig junge französische Offiziersanwärter in Marrakech zur École d’application
du Personnel navigant. Der Kommandant, der die Schule leitete, fand unsere
Ernennung als Leutnant ohne Vergangenheit als Soldat regelwidrig. Also sagte er
uns, Langlois und mir, dass wir mit den Offiziersanwärtern wohnen und speisen
würden. Das Schlafen in einem grossen Schlafraum mit superponierten Betten
störte uns nicht, dagegen mussten wir mit unseren Esschalen Schlange stehen vor
den uns servierenden marokkanischen Soldaten. Jene schienen bestürtzt beim
Anblick von zwei mit Offiziersanwärtern, welche noch Soldaten waren, Schlange
stehenden Offizieren ; wahrscheinlich fragten sie sich ob wir bestraft waren.
Langlois und ich genierten uns dermassen, dass wir nach zwei Tagen unsere
Dienstabzeichen entfernten. Da diese Situation mir sehr unangenehm erschien,
schlug ich Langlois vor, dies dem Kommandant zu erklären. Da er ablehnte, ging
ich allein, und der Kommandant gab zu, einen Fehler begangen zu haben und
installierte uns mit den Offizieren sowohl für den Schlaf als
für die Mahlzeiten, welche wir also in der Offiziersmesse einnahmen. Ich hatte
gewählt, in der Marrakechschule das Orterdiplom vorzubereiten. Dazu hörten wir
theoretische Kurse, die unsere Instruktoren als gleiches Niveau mit
Mathématiques spéciales bezeichneten, ich aber fand sie eher ebenbürting mit
der Sekunda. Gleichzeitig führten wir Flüge aus, entweder als Orterschüler
oder als Passagiere, da zum Erlangen des Diploms 100 Stunden Flug erforderlich
waren. Die Flugzeuge die wir flogen waren Leo 45 oder Cessna. Das Leben in der
Basis war sehr billig so dass 90% der Besoldung Taschengeld war. So gingen wir
jeden Monat nach Erhalt unseres Geldes gemeinsam dinieren ins Hotel Mamounia,
ein hochluxuriöses Hotel von Weltruf ; Churchill kam schon dort zum weilen und
sich ausruhen ;die Mahlzeiten waren vorzüglich und entsprechend teuer. Eines
Tages hatte ich Gelegenheit,Fontanet und Baylé dort wieder anzutreffen, und mit
ihnen einen Tag in Mogador, inzwischen Essaouira geworden, zu verbringen ; ich
war weggegangen ohneGenehmigung, die ich wahrscheinlich nicht bekommen hätte ;
und erfuhr bei der Rückkehr, dass ich an diesem Tag am Flugplan vermerkt war,
und dass der gute Wille meinerameraden und das Verständniss eines Instruktors
mir eine Strafe erspart hatten. Gegen Ende des Trainieraufenthaltes führte
Langlois einen Flug als Passagier mit einem Pilotenschüler ; letzerer verpasste
die Landung und starb mit Langlois. Mit fünf anderen Freunden von Langlois
brachte ich seinen Sarg in die Erde des Marrakech Friedhofes. Am 18. August
endete der Trainieraufenthalt. Ich schloss ab als erster, was nicht allzu schwer
war, und erhielt das Orterdiplom. Dann musste man einen Spezialisierungskurs
befolgen und ich wählte die schweren Bomber, deren Kurs in England stattfand.
Am 20. August brach ich also mit denjenigen, die die schweren Bomber gewählt
hatten, für das Lager Baraki bei Algier auf. Wir schifften uns in Algier am 7.
September 1944 für England ein : wir fuhren im Geleitzug und erreichten
Greenock in Schottland bei Glasgow am 14. September.
7. England.
Wir verbrachten einige Tage in einem Auffanglager in der Nähe Londons genannt
« Patriotic School ». In London bin ich zufällig dem Piloten General Leclercs
begegnet, der am nächsten Tag in Paris den ersten
Brief aufgab, den ich seit meinem Verlassen Frankreichs an meine Eltern
schreiben konnte. Auch in London kaufte ich am 25. September 1944 das
Mathematikbuch « A course of modern analysis » von Whittaker und Watson ;
während meines Englandaufenthaltes studierte ich sorgfältig den Inhalt dieses
Buches zwecks meiner Rückkehr in the École normale. Auch während meines
Englandaufenthaltes verfasste ich einen Artikel über die Anwendung der stetigen
Bruchteile auf transzentende Zahlen ; bei dem wiederhergestellten
Beziehungen zwischen Frankreich und England schickte ich diesen Artikel meinem
Vater, der ihn der « Revue scientifique » vorlegte, worin er publiziert wurde.
Nach London wurde ich in ein Zentrum in Filey geschickt, dann nach Dumfries in
Schottland zum « Advanced Training Unit » wo ich vom 10. Oktober bis zum 4.
Dezember blieb. Dann wurde ich nach Lossiemouth, auch in Schottland zum «
Operational Training unit » transferiert, wo ich vom 2. Januar bis zum 9. März
blieb. In diesem Zentrum wurden die Mannschaften ausgebildet und man flog
nächtlich mit Mannschaft. Lossiemouth liegt bei 58 Grad Breite und wir waren im
Winter ; die Nacht fing also sehr früh an, was sehr praktisch war für
Nachtflüge. Die Orter flogen manchmal als zweite Orter mit anderen
Mannschaften. Einmal flog ich als solcher mit englischer Mannschaft als das
Fahrgestell bei der Landung zerbrach, und das Flugzeug infolge Reibung auf der
Piste Feuer fing ; es gelang allen Engländern bei den verschiedenen
Notausgängen auszubrechen, mir aber nicht, weil alle Ausgänge durch Flammen
verpertt waren ; das Flugzeug, ein Wellington, bestand aus einer ein Gewebe
spannenden Aluminiumstruktur ; das Gewebe zwishen Aluminiumstangen zerreissend,
konnte ich, da ich ziemlich schlank bin, hinausbrechen, und ich hörte die
Engländer sich fragen, was aus dem « französischen Orter » geworden sei ;
wir waren alle wohlauf, beim Anblick des brennenden Flugzeugs waren aber unsere
Kameraden überzeugt, dass wir alle tot waren. Am 9. März wurden die
Lossiemouth Mannschaften in eine andere Basis geschickt zur Umschulung auf
Halifaxflugzeuge, die wir bei Kriegsoperationen fliegen sollten. Am 5 Mai 1945
gelangten wir zur Gruppe Guyenne, eine der zwei Gruppen von schweren Bombern der
Forces françaises libres. Wir wurden dort sehr ironisch begrüsst, mit
Bitterkeit empfanden wir das Ende eines schwierigen Abenteurs von zwei Jahren ;
drei Tage später unterzeichnete Deutschland die bedingungslose Kapitulation,
der Krieg war beendet.
Wir haben Flüge über Deutschland ausgeführt, haben die nutzlos gewordenen
Bomben in die Nordsee geworfen : am 18. Juni 1945 nahm unsere Mannschaft am
Aufzug bei den Champs Elysées teil. Ausgeflogen von Elvington im Yorkshire
haben wir bei vorgeschriebener Stunde die Champs Elysées überflogen und flogen
dann zurück zum landenin Elvington. Im Monat Juli wurde ich der
Vorbreitungsteilung zugewiesen, welche für die Installation der
Schwerbombergeschwader Guyenne und Gascogne in der Basis von Mérignac bei
Bordeaux vorsorgen sollte ; von dieser Basis war Général de Gaulle am 17. Juni
1940 nach London geflogen ! Von Bordeaux konnte ich einige Tage meine Eltern in
Paris nach einer einundzwanzigmonatiger Abwesenheit besuchen. In Mérignac
bereitete ich das letzte mir fehlende Examen (certificat de licence), das
certificat de Mécanique rationnelle vor. Geschickt zum Centre de Rassemblement
et d’Administration du Personnel in Paris wurde ich am 21. Oktober aus der
Armee entlassen, zwei Jahre und drei Tage nach Ubertritt der spanischen Grenze.
Am 24. Oktober schloss ich meine «licence» ab durch Passieren des certificat
de Mécanique rationnelle, und ich kam zurück zur École normale zur
Ausführung des zweiten und letzen Jahres.
Bandol, Tel. 00 33 4 9429 5353)